Bericht zur öffentlichen Veranstaltung am 22.06.2023 der SPD Kelkheim
Frieden für die Ukraine möglich? Einstieg in eine neue Sicherheit für Deutschland und Europa
Mit dem russischen Überfall auf die selbständige Ukraine im Februar 2022 ist tatsächlich eine Zeitenwende in Europa, wenn nicht weltweit eingetreten. „Grenzen von Staaten zu akzeptieren, diese als unverletzlich zu betrachten und zu garantieren schien uns als derart selbstverständlich, dass viele vermeintlichen Errungenschaften und Gewohnheiten der letzten Jahrzehnte jetzt über den Haufen geworfen wurden.“, macht Dr. Michael Hellenschmidt, der Vorsitzende der Kelkheimer SPD, deutlich.
Seit 1991 ist die Ukraine nach Auflösung der Sowjetunion ein unabhängiger Staat. Spätestens mit den russischen Aktivitäten seit den Euromaidan-Protesten 2013-2014 ist die Ukraine in seiner territorialen und staatlichen Integrität bedroht und angegriffen. Auslöser der Proteste waren damals die überraschende Erklärung der ukrainischen Regierung im November 2013, das geplante Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union nicht unterzeichnen zu wollen. Zusammengefasst endeten die Euromaidan-Proteste durch Flucht des damaligen Präsidenten Janukowytsch, vorzeitige Präsidentschaftswahlen und der nachträglichen Unterzeichnung des Abkommens mit der EU. Die Annexion der Krim durch Russland und sogenannte Unabhängigkeitsbestrebungen östlicher ukrainischer Gebiete sind eine Folge davon, die in ihrer Tragweite nicht gesehen werden wollten und als klare Hinweise weiterer kriegerischer Absichten Russlands heute gesehen werden müssen.
„Die Ukraine als europäischen Staat beim Aufbau und bei der Sicherung demokratischer Strukturen zu unterstützen, sollte für jeden Europäer wichtig sein. Dies um so mehr, weil die russische Diktatur die Ukraine als „ihr Eigentum“ betrachtet und das Land entgegen dem Völkerrecht und der UN-Konventionen militärisch vereinnahmen will und die Menschenrechte auf Leben und Frieden zerstört.
Um die Ukraine auf dem Weg zur Demokratie zu stärken, unterstützen wir sie mit vielen humanitären Hilfeleistungen, Lebensmittellieferungen, finanziellen europäischen Mitteln und medizinischen Leistungen. Da die Ukraine seit Februar 2022 vom diktatorischen Russland das Existenzrecht aberkannt wird und auf ihrem Staatsgebiet der russische Angriffskrieg stattfindet, muss es sich verteidigen können – notwendigerweise auch durch Waffenlieferungen“, betont Gert Nötzel, Vorstandsmitglied der Kelkheimer SPD.
Um zu helfen, die aktuelle Situation zu analysieren und einzuordnen, organisierte die SPD Kelkheim am Donnerstag, den 22. Juni 2023 im kleinen Saal der Kelkheimer Stadthalle einen Diskussionsabend mit kompetenten Gesprächspartnern. Diese waren:
• Hauptmann Kurt Stiller, Offizier der Bundeswehr und Referent für Sicherheitspolitik des Landeskommando Hessen,
• Dr. Martina Helmerich, ehemalige Auslandskorrespondentin des SPIEGEL und heutiges Kreistagsmitglied der SPD im Main-Taunus-Kreis und
• Dr. Matthias Dembinski, Projektleiter am Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Frankfurt / Main.
Knapp 50 Gäste beteiligten sich rege an den Diskussionen und stellten Fragen an das Podium. Den Anfang macht Frau Dr. Helmerich, die eine ukrainische Begrüßung wählte, um ihre Verbundenheit mit dem ukrainischen Volk zum Ausdruck zu bringen. Sie betonte die aktuelle Gefühlslage der Bevölkerung, berichtet von der zunehmenden Erschöpfung der Menschen in der Ukraine nach mehr als 15 Monaten Krieg, aber auch von deren Ziel, die staatliche Unabhängigkeit bewahren zu wollen und die territoriale staatliche Unversehrtheit wiederherstellen zu wollen.
Die ukrainischen Bürgerinnen und Bürger sind stolz auf die erreichte Freiheit. Hilfe aus den USA und den europäischen Staaten ist herzu substanziell wichtig. Mittlerweile würden sich die Menschen auf eine lange Kriegszeit einrichten, ein langer ausdauernder Atem sei hier wichtig. Hauptmann Stiller betont in seinem Eingangsstatement, dass der russische Angriffskrieg auf die Ukraine der größte konventionell geführte Krieg seit dem Zweiten Weltkrieg darstellt. Mittlerweile beträgt die Front 1.600 km, was beinahe zweimal die Ausdehnung der Bundesrepublik Deutschland in Nord-Süd-Richtung bedeutet. Die russische Armee habe die letzten Wochen und Monate die Zeit genutzt und schwere Verteidigungslinien entlang der von ihnen besetzten Gebiete gezogen, was die Offensive der Ukraine zusätzlich erschweren und die Kriegsdauer in die Länge ziehen wird. Hauptmann Stiller rechnet ebenso wie Frau Dr. Helmerich mit einer langen Kriegsdauer. Zugleich räumt er mit dem Missverständnis auf, man könnte zwischen Angriffs- und Verteidigungswaffen unterscheiden. Das würde so nicht gelten. Ebenso räumt er mit einem weit verbreiteten Mythos bezgl. des Völkerrechtes auf, welches der Ukraine untersagen würde Angriffe auf russischem Territorium zu starten. So lange diese Angriffe Nachschublinien betreffen würden und helfen würden, Angriffe Russlands auf die Ukraine zu verhindern, sind sie vom Völkerrecht im Rahmen der Verteidigung erlaubt.
Herr Dr. Dembinski betont anfangs, dass es viel Anlass zu Pessimismus gibt, sowohl was einen militärischen Ausstieg aus dem Krieg als auch andere Arten aus dem Krieg betrifft. Er äußert hier Zweifel, ob Putin allein mit militärischen Niederlagen an einen Verhandlungstisch zu zwingen sei. Es gäbe zwar Hoffnung auf einen Kollaps der russischen Armee, jedoch darf man diese Hoffnung nicht überbewerten.
Auf Frage aus dem Publikum bewertete Hauptmann Stiller die aktuelle Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr, die momentan keinesfalls auf einen „Krieg zur Verteidigung Deutschlands“ vorbereitet sei. Aber das müsse sie auch gar nicht. Sie ist in festen Bündnissen wie NATO und EU eingebunden und muss sich, sollte die Bundesrepublik Deutschland angegriffen werden, nicht allein verteidigen. Probleme sind momentan im Zustand der Ausrüstung zu sehen sowie in der Bevorratung mit Munition. Zu Fragen der Waffenlieferungen an die Ukraine positioniert sich Hauptmann Stiller sehr klar: Sie sorgen dafür die Ukraine zu stärken und aus einer Position der Stärke in mögliche spätere Verhandlungen zu gehen; auch um den Preis der Verlängerung des Krieges. Die Alternative bei ausbleibenden Waffenlieferungen ist, dass die Ukraine binnen kurzer Zeit von der russischen Armee überrollt werden würde. Und genau hier beantwortet sich auch die Frage, was dieser Konflikt uns als Dritte angehe? Bei einem Gewinn des russischen Militärs sind unsere eigenen Sicherheitsinteressen unmittelbar betroffen, denn dann steht Russland vor den Grenzen von NATO- und EU-Staaten bzw. anderer unbeteiligter Staaten und könnte sich zuerst an Moldawien und dann an den Staaten des Baltikums vergreifen. Und spätestens dann eine ernsthafte Bedrohung für Frieden und Demokratie der Europäischen Union darstellen. Für ihn ist es unvorstellbar, dass die NATO direkt eingreifen würde. Ein Bestreben nach einer solchen militärischen Lösung gebe es nicht.
Fest stehen zwei Ziele: die Ukraine muss durch EU und NATO unterstützt werden, den Krieg nicht zu verlieren; EU und NATO dürfen nicht mit direkter Beteiligung in den Krieg verwickelt werden.
In dem Zusammenhang betont Herr Dr. Dembinski, dass Verteidigung in der Vergangenheit sich immer als leichter und vor allem mit weniger Verlusten herausgestellt hat, was wiederum für die erwartete ukrainische Offensive wenig Hoffnungsvolles erwarten lässt.
Er stellt als Beispiel die vergleichsweisen einfachen Javelin-Waffen heraus, mit deren Anwendung es geschafft wurde, den russischen Vormarsch mit Panzern zu Beginn des Krieges zu stoppen. Seiner Meinung nach will Putin den Krieg aufrecht erhalten, weil im Falle einer Niederlage sein persönliches Schicksal und die Rolle Russlands als Großmacht in Frage gestellt wäre. In dem Sinne wartet Putin auf ein Nachlassen der Unterstützung für die Ukraine, gefolgt von einer raschen Niederlage der ukrainischen Streitkräfte.
Hier setzt Frau Dr. Helmerich ein und erläutert die Bestrebungen Russlands seit 1991 die Uhr zurück drehen zu wollen und die in die Unabhängigkeit entlassenen ehemaligen Sowjetstaaten sozusagen zurück holen zu wollen. Dabei habe er aber die Widerstandskraft und Zivilgesellschaften dieser neuen Staaten und insbesondere der Ukraine unterschätzt. Insgesamt zeige Putin und die russische Regierung ein antiquiertes Politikverständnis. Einziger Gradmesser politischen Erfolgs seien Zuwächse an Territorium und Bevölkerungszahlen.
Auf die Frage nach Wirksamkeit von Sanktionen und deren praktische Umsetzung antwortet Herr Dr. Dembinski sehr ausführlich und betont, dass die wissenschaftliche Datenbasis sehr umfangreich sei. Im Prinzip seien Sanktionen ein zweischneidiges Schwert und müssen so gestaltet sein, den mit Sanktionen belegten Staat zu schwächen, ohne eigene Handlungsfähigkeiten zu verlieren. Allerdings ist auch belegt, dass nur auf Sanktionen zu setzen in der Vergangenheit noch keinen Staat zum Einknicken oder Einlenken bewegt habe. Jedoch schwächen sie den von Sanktionen belegten Staat und können dessen Aktionsraum einschränken. Sie wirken eher auf die lange Dauer, denn auf kurze Sicht.
Bei Russland handelt es sich um ein besonders schwer mit Sanktionen zu schädi-gendes Land, da es sehr groß sei, über umfangreiche Bodenschätze und eine hohe Einwohnerzahl verfüge und daher lange Zeit autonom auskommen kann. Leider habe eine umfangreiche internationale Isolierung Russlands bisher nicht funktioniert, da asiatische, afrikanische und süd-amerikanische Staaten sich bisher abwartend bzw. neutral verhalten. Hier muss Diplomatie noch viel bewirken und deren Vorschläge und Ansichten besser im Gesamtprozess berücksichtigen.
Die Podiumsteilnehmer wagten einen Blick in die nahe und mittlere Zukunft und stellten Varianten in den Raum, um endlich zum Einstieg in einen Friedensprozess zu kommen.
In der NATO wird die Ukraine kurzfristig weniger gesehen, jedoch zur Verankerung in der westlichen Welt als Mitglied der Europäischen Union. Die Grenzen könnten eingefroren werden, auf den Stand vom Februar 2022. Für die Zukunft der Krim ließe sich an ungewöhnliche Modelle denken, wie z.B. die Krim wieder zur Ukraine zurückzuführen aber an Russland für die nächsten hundert Jahre zu verpachten. Eventuell müsste die Ukraine nur so lange durchhalten, bis die Nachfolgefrage von Putin in Russland geklärt ist und eine unbelastete neue russische Regierung in Friedensverhandlungen eintreten kann.
Bezüglich eines Friedens mit Putin gaben sich die Podiumsteilnehmer einheitlich pessimistisch. Bisher habe Putin über kurz oder lang jeden Vertrag gebrochen bzw. nicht eingehalten. Wie kann also ein angegriffener Staat wie die Ukraine einem noch auszuhandelnden Friedensvertrag vertrauen, der Putins Unterschrift trüge. Welchen wie auch immer gearteten Sicherheitsgarantien von Seiten Russlands soll die Ukraine nach diesen Erlebnissen vertrauen?
Eine interessante Analogie zu Deutschland wurde zum Abschluss der Diskussion von Herrn Dr. Dembinski gezogen. Die Bundesrepublik Deutschland wurde in der angespannten Situation des geteilten Deutschlands 1954 in die NATO aufgenommen, und bekam dadurch notwendige Sicherheiten. Eine Aufnahme der Ukraine in die NATO ist also auch bei unklarem Grenzverlauf denkbar. Die dadurch übertragenen Sicherheiten und demokratische Kontrolle könnten diesen Nachteil aufwiegen.
Still wurde es im Saal als eine unmittelbar betroffene Ukrainerin das Wort ergriff und von der Brutalität und den Verbrechen des russischen Militärs berichtete. Sie erzählte von verschleppten Kindern und vom Willen des ukrainischen Volkes Freiheit und Demokratie der Ukraine bis zuletzt zu verteidigen.
Vor knapp 50 Teilnehmerinnen und Teilnehmern wurde die Diskussion von Moderator und SPD-Vorstandsmitglied Gert Nötzel geschlossen. Nicht ohne den Podiums-gästen ein Gastgeschenk zu überreichen. Passend zum Gagernjahr erhielten sie eine Ausgabe des Buches „Gagern. Pioniere der deutschen Demokratie“, um ein kleines Zeichen zu setzen, welche Errungenschaften die Bundesrepublik Deutschland zu verteidigen hat, die es wert sind jeden Tag neu erkämpft zu werden.
Die Kelkheimer SPD steht hinter dem Freiheitswillen der Ukraine und erwartet von den politisch Verantwortlichen alle politischen Instrumente der Geheim -Diplomatie zu nutzen, um den Einstieg in den Frieden endlich zu erreichen und damit dem sinnlosen Sterben und Leid der ukrainischen Bevölkerung ein Ende zu setzen.
Die SPD Kelkheim dankt allen Besucherinnen und Besuchern für ihre Beteiligung, die spannenden Fragen und Diskussionsbeiträge und ganz besonders den drei Podiumsgästen Frau Dr. Helmerich, Hauptmann Stiller und Herr Dr. Dembinski.